(((center|David Lagercrantz über das Geheimnis von Lisbeth Salanders Drachen-Tattoo)))
David Lagercrantz über das Geheimnis von Lisbeth Salanders Drachen-Tattoo
Im Herbst 2015 hatte ich eine entscheidende Einsicht. Gerade war das vierte Buch der Millennium-Serie erschienen; ich reiste um die Welt, gab eine Menge Interviews und wälzte mich nachts schlaflos in diversen Hotelbetten. Und hin und wieder grübelte ich über etwas nach, das mir schon seit Längerem keine Ruhe ließ.
Warum hat sich Lisbeth Salander einen Drachen auf den Rücken tätowieren lassen? Wie Sie wissen, ist dieser Drache sozusagen ihr Markenzeichen. Sie hat ihn bereits am Anfang von Stieg Larssons erstem Roman. Die Tätowierung ist einfach da, ein Teil ihrer Persönlichkeit. Wir erfahren nie, warum sie sie hat. Aber wir spüren, dass sie nicht zuletzt deshalb so faszinierend ist.
Ich stellte Nachforschungen an und fand heraus, dass ein so großes Tattoo ¿ ein Kunstwerk, das vom Nacken bis zu den Schulterblättern reicht - nicht gerade billig ist. Doch zu Beginn der Millennium-Serie ist Salander noch eine mittellose, völlig von ihrem Betreuer abhängige junge Frau.
Sie muss hart gearbeitet haben, um sich das Tattoo leisten zu können. Sie muss fest entschlossen dazu gewesen sein, und sie tut - wie wir wissen - nichts ohne Grund. Deshalb wuchs die Gewissheit in mir, dass nur ein einschneidendes Erlebnis sie dazu bewegen konnte, ein Tätowierstudio aufzusuchen. Diese Frage nach ihrer Geschichte und Mythologie raubte mir nachts den Schlaf.
Ich recherchierte über Drachen. Fragte andere Menschen, was sie von ihnen hielten. Mein englischer Verleger Christopher MacLehose riet mir, die Storkyrkan-Kathedrale in Gamla Stan, der Altstadt meiner Heimatstadt Stockholm, aufzusuchen. Dort steht eine herrliche Statue des heiligen Georg, wie er den Drachen mit seinem Schwert erschlägt. Christopher meinte, dass diese Statue dabei helfen könnte, neues Licht auf eine alte Geschichte zu werfen - insbesondere, wenn man sie mit Salanders Augen betrachtet. Die Storkyrkan kannte ich selbstverständlich ¿ sie ist eine der wichtigsten Touristenattraktionen Stockholms. Als meine lange Lesereise endlich zu Ende war, betrat ich an einem kalten Wintertag die Kirche und stand staunend vor der Statue. Anfangs sah ich nur, was ich bisher immer gesehen hatte: der heilige Georg auf dem Pferd, der das Ungeheuer angreift. Doch dann kam mir eine Idee: Man kann die Statue genauso gut als einen heimtückischen Angriff auf einen Drachen sehen. Immerhin liegt der Drache von einem Speer durchbohrt am Boden und schreit vor Angst. Doch das war noch nicht die wichtigste Erkenntnis dieses Tages.
Neben dem Drachen steht die Bronzefigur einer Frau, die das Ganze teilnahmslos beobachtet. Es dauerte eine Weile, bis ich darauf kam, dass sie die Jungfrau darstellt, die vom heiligen Georg gerettet werden soll. Mir kam sie eher wie eine neutrale Beobachterin vor. In diesem Augenblick lief es mir kalt den Rücken herunter. Plötzlich begriff ich, was Lisbeth Salander zugestoßen war, weshalb sie sich den Drachen hatte tätowieren lassen.
Sofort erkannte ich etwas Neues, Unmittelbares in der Finsternis, aus der sie getreten war, um die bekannteste Krimiheldin der Gegenwart zu werden. Und darüber schreibe ich in Verfolgung.
David Lagercrantz, Stockholm, 18. Juni 2017
(aus dem Englischen von Kristof Kurz)
Copyright: Heyne Verlag 2017